Neue Überdruck-Type auf den MiNrn. 2 und 4 von Kiautschou nachgewiesen
Nach Erscheinen des Buches „Kiautschou: Die zweite Tsingtau-Aushilfs-Ausgabe vom 19. Juli 1900“ von Hermann Branz im Jahre 1975 war zu den Aufdrucktypen der MiNrn. 2 – 4 von Kiautschou eigentlich alles gesagt. Jedermann konnte nachlesen, worin sich die Aufdrucktypen unterscheiden und wie diese auf der 50er-Druckplatte angeordnet waren. Sämtliche Auktionsstücke der folgenden Jahre orientierten sich an dieser Nomenklatur; die Ausgabe galt als hinreichend erforscht.

So werden aufmerksame Leser des Kataloges der 98. Auktion des Württembergischen Auktionshauses im Dezember 2006 mit gehöriger Skepsis aufgemerkt haben, als dort zwei Exemplare einer abweichenden Überdruck-Type auf den MiNrn. 2 und 4 angeboten und zugeschlagen worden sind.

Dies waren – so unglaublich es klingen mag – jedoch nicht die ersten Exemplare! Dem Autor des vorliegenden Artikels wurde bereits im Mai 2006 eine identische Type des Buchdruck-Überdrucks – eine MiNr. 4 auf Postkarte (Abb. 1) – zur Prüfung vorgelegt. Nach damaligem Kenntnisstand handelte es sich allerdings um das erste bekannte Exemplar dieses neuen Überdrucks, der sich aus der „5“ der Type 3 und dem „Pf.“ der Type 2 zusammen setzt (Abb. 2). Und die entscheidende Frage stellte sich damals etwas anders: Wie ist eine „einzigartige“ Vorlage zu beurteilen? Insbesondere dann, wenn diese abweichende Type im erwähnten Standardwerk für diese Ausgabe nicht aufgeführt ist?

Auch wenn der Beleg vom optischen Eindruck durchaus „echt“ wirkte und sich kein Nachweis einer Fälschung erbringen ließ, konnte solch eine „Wirkung“ keinesfalls bedeuten, ein derartiges Stück ohne Weiteres als prüffähig zu klassifizieren, zumal der Prüfkunde, der sich mit dem Sammelgebiet bisher nicht näher beschäftigt hatte, behauptete, die Karte sei von ihm selbst als Teil einer größeren Korrespondenz in einer sog. „Grabbelkiste“ gefunden worden. Eine solche Quelle dürfte zwar auch für jede andere Seltenheit vorstellbar sein, aber wie viele Fälschungen haben mit solch´ einer schönen Geburtslegende nicht schon das Licht der Welt erblickt? Vor dem Hintergrund, dass schon kurze Zeit nach Erscheinen der Aushilfs-Ausgabe Fälschungen (mit den Original-Typen auf der Urmarke DP China MiNr. 3 II) aufgetaucht sind und die vorgelegte Type bis dato unbekannt war, konnte eigentlich nur eine Stellungnahme der Sachlage gerecht werden: eine abschließende Prüfung war vorerst nicht sicher durchzuführen.
Den Eigentümer hatte dies – angesichts des angenommenen, enormen Wertes – verständlicherweise nicht begeistert.

Nun hätte es noch Jahre dauern können, bis sich überhaupt etwas in dieser Angelegenheit getan hätte. Doch der Zufall wollte es anders: Auf der bereits genannten 98. Auktion des Württembergischen Auktionshauses wurde ein zweites Exemplar einer MiNr. 4 mit derselben Überdruck-Type angeboten (Abb. 3, Los 83, 98. Württembergisches Auktionshaus 2006). Doch damit nicht genug, in derselben Auktion kam ein weiteres Belegstück dieses Überdrucks zum Ausruf, nun als MiNr. 2 (Abb. 4, Los 77, 98. Württembergisches Auktionshaus 2006).
Während dieses dritte Exemplar anhand der Registratur des Autors bereits für das Jahr 1931 (71. Köhler-Auktion) nachgewiesen werden konnte – und damit zumindest ein neuere Fälschung auszuschließen war –, gibt es zu dem zweiten Stück ein ausführliches Attest von Hans Bothe vom 19.02.1978, in dem er zur abweichenden Type Stellung nimmt. Herr Bothe beschreibt die Marke mit Aufdruck und Stempel als echt und gibt einen entscheidenden Hinweis, indem er das Feld der Marke im Bogen angibt: Feld 96.
Dem Autor erschien diese Angabe zugegebenermaßen sehr verwegen, da eine Feldbestimmung in der Regel nur mit mehreren Vergleichsstücken und nur über größere Einheiten erfolgen kann, die es aber gerade von dieser Marke auch schon damals kaum mehr gab. Eine Bogenrekonstruktion über die Plattierung der Urmarke, Deutsches Reich MiNr. 47, erschien ebenfalls kaum vorstellbar, da deren Erforschung – im Gegensatz zu heute – zur Zeit der Prüfung durch Herrn Bothe noch in den Kinderschuhen steckte. Umso erstaunlicher also die präzise Feststellung durch Herrn Bothe, zumal er sich unter dem 10.10.1978, also fast acht Monate nach Erstellung des erwähnten Attestes in einem, dem Autor erst seit kurzem vorliegenden Brief an Herrn Branz, der die Überdruck-Type also kannte, aber nicht mehr in seiner schon einige Jahre vorher erschienenen Ausarbeitung aufnehmen konnte, noch einmal zu dieser Type äußerte. Ihm war ein weiteres, jetzt viertes Exemplar (Abb. 5) vorgelegt worden, weshalb er nunmehr deutlich verunsichert schrieb: „Aber die Type darf es doch nicht geben?? Sollte doch noch irgendein Nachdruck mit Originaltypen auf der diagonalen China 3/I erfolgt ein? Oder kann es doch denkbar sein, daß bisher unbekannte Typen aus der Umstellung der letzten Bogen existieren? Es könnte ja bei dem letzten Bogen eine nochmalige Umstellung erfolgt sein, nachdem bereits an den letzten 3 Bogen herumgefummelt wurde. --- Ich kenne mich jetzt wirklich nicht mehr aus.“

Wenn man nun schon nicht mehr erfahren wird, wie Herr Bothe zu seiner Feststellung gekommen ist: Wie kann man – wenn auch die vorhandene Spezialliteratur nicht weiterhilft – mit den heutigen Möglichkeiten, Vorlagen und Kenntnissen nach über 100 Jahren eine neue Type sicher nachweisen?

Der Nachweis sollte mit der Kombination zweier unterschiedlicher Ansätze erbracht werden. Einerseits sollte versucht werden, mit Hilfe der „Urmarken“ eine präzise Feldbestimmung der neuen Aufdrucktype vorzunehmen, andererseits sollten diese Erkenntnisse mit bekannten Belegstück(kombination)en verglichen bzw. mit möglichen Nachbarmarken in Beziehung gesetzt werden.

Während für den ersten Teil des Nachweises – aufgrund des Bothe-Attestes und der schon von Friedemann geäußerten Hypothese, dass die zweite Bogen-Umstellung auch andere Felder der untersten waagerechten Reihe betroffen haben muss, war dies nahe liegend – nur untere Bogenhälften der DP China, MiNr. 3 I, 7 I oder Kiautschou, MiNr. 1 I für die nähere Untersuchung in Frage kamen, sollte für den zweiten Teil die Registratur des Autors heran gezogen werden. Obwohl auch zum jetzigen Zeitpunkt das Projekt, alle deutschsprachigen Auktionen seit 1900 zu erfassen, noch immer nicht abgeschlossen ist, standen bereits über 1.600 mit Abbildungen belegte Exemplare, also immerhin etwa 80 % der Gesamtauflage dieser Aushilfs-Ausgabe, für eine Auswertung zur Verfügung. Aus diesem registrierten Fundus sollten Paare oder gar kleinere Einheiten anhand verschiedener Kriterien (Verschiebung der Zähnung zum Markenbild, Stellung des Aufdrucks, Stellung des Überdrucks, Verlaufshöhe des Blaustrichs etc.) zusammen gesetzt werden.

So weit die Theorie – denn das Problem war offensichtlich: wer besitzt jetzt eine untere Bogenhälfte der genannten Werte? Der in der grundlegenden Friedemann-Publikation „Die Aushülfsmarken von Tsingtau und ihre Fälschungen“ von 1903 großformatig in schwarz/weiß abgedruckte Bogen der MiNr. 2 bzw. 4 erfüllte die hohen Ansprüche an die Wiedergabe der Zeichnungsdetails der Urmarken nur bedingt.
Aus der Registratur war jedoch eine untere Bogenhälfte der Kiautschou MiNr. 1 I bekannt, die letztmalig 1990 versteigert wurde. Mit Hilfe des ehemaligen Eigentümers, Herrn Willkommen, der damaligen Auktionatorin Frau Grobe und insbesondere durch Vermittlung von Herrn Erhardt, ist es letztendlich gelungen, eine stark vergrößerte und sehr detailreiche Abbildung dieses Halbbogens vom derzeitigen Eigentümer zu erhalten.

Nach eingehender Prüfung auch winzigster Details einzelner Bogenfelder, der „Gegenprobe“ anhand bekannter Stücke und Kombinationen – der komplette registrierte Bestand an Auktionsabbildungen musste weit über zehn Mal durchgesehen werden, um alle möglichen theoretischen Kombinationen und Möglichkeiten abzusichern, was aufgrund der oft schlechten Qualität der alten Auktionsabbildungen nicht immer einfach war – nach dieser eingehenden Prüfung konnte letztlich nachgewiesen werden, dass die neue Überdruck-Type tatsächlich von Feld 96 stammt. Neben der identischen Stellung des Aufdrucks „China“ im Markenbild und der identischen Verschiebung Markenbild zu Zähnung gibt es ein ganz typisches Detail in der Zeichnung der Urmarke vom Feld 96: einen kleinen weißlichen Fleck im so genannten Nest rechts oben, der auch auf allen anderen Marken dieser Ausgabe auf diesem Feld vorkommt (Abb. 6).

Dieser Feldnachweis wird auch von dreien der bisher identifizierten Nachbarmarken bzw. -einheiten hinsichtlich der aufgeführten Kriterien – Verschiebung Markenbild zu Zähnung, Stellung des Aufdrucks und Stellung des Überdrucks – gestützt (Abb. 7 – 9), zur Verdeutlichung je mit grünem Strich und ohne die Marke von Feld 97, die Zähnung ausgerichtet an blauen Strichen). Lediglich die vierte Kombination von neuer Type (Feld 96) und Type 3 c (Feld 98) fällt nicht passgenau aus (Abb. 10).

Wenn nun die genaue Platzierung nachgewiesen ist, so ist die Abfolge der Plattenumstellungen jedoch noch immer nicht eindeutig geklärt.
Nach Friedemann und Branz kam es beim Überdruck der 20 Bögen der Urmarke DP China MiNr. 3 I zweimal zu einem teilweisen Umbau der Überdruckplatte. Da die Überdruckplatte nur aus 50 Klischees bestand, musste jeder der 20 Bögen zweimal überdruckt werden: zuerst liefen die oberen und später die unteren Bogenhälften durch die Druckmaschine. Bei Branz heißt es dazu: „Tatsächlich wurden aber zuerst die 20 oberen Bogenhälften überdruckt und dann wohl noch 10 untere Bogenhälften, (...), bevor eine Beschädigung in der unteren Reihe der Druckplatte eintrat, so daß die Lettern für die Felder 91, 92, 93 neu gesetzt werden mußten. Diese Tatsache möchte ich als erste Plattenumstellung bezeichnen (...). Gegen Ende des Überdruckens ist dann in der unteren Reihe der Druckplatte eine weitere Beschädigung eingetreten, so daß auch noch die Lettern der Felder 98, 99 und 100 neu gesetzt wurden. Diese zweite Plattenumstellung hat sich sicher nicht bei mehr als drei unteren Halbbögen ausgewirkt.“

Die Angaben sind nach dem heutigen Stand in zwei Punkten zu präzisieren. Da jedoch nur drei Kombinationen hinsichtlich der Höhe des Überdrucks und des Blaustrichs relativ eindeutig übereinstimmen – minimale Abweichungen dürften auf Unzulänglichkeiten der Abbildungen der jeweiligen Stücke (meist kleine Auktionsabbildungen) zurückzuführen sein – ist davon auszugehen, dass von beiden Überdruck-Typen (3 c und 11) noch je ein fünftes Exemplar existiert, welches zum jeweiligen Pendant passt.

Die obigen Ausführungen haben sicherlich anschaulich illustriert, dass man nicht nur posthistorisch neue Zusammenhänge, sondern auch „harte“ philatelistische Fakten wie eine neue Überdruck-Type – selbst nach über 100 Jahren Forschung – mit viel Aufwand und etwas Glück noch nachweisen kann.

Literatur:
Branz, Hermann, „Kiautschou: Die zweite Tsingtau-Aushilfs-Ausgabe vom 19. Juli 1900“, Berlin 1975
Friedemann, Albert, „Die Aushülfsmarken von Tsingtau und ihre Fälschungen unter besonderer Berücksichtigung der beim Kaiserlichen Gericht von Kiautschou stattgehabten Gerichtsverfahren“, Leipzig 1903

(Der Artikel erschien 2009 in „Berichte für Kolonialbriefmarkensammler“, Nr. 128, S. 3723 ff.)


Nachtrag I (Juni 2012)

Nachdem vor einigen Jahren innerhalb kürzester Zeit mehrere Exemplare der im Folgenden dann nachgewiesenen, neuen Überdruck-Type 11 zur Prüfung vorgelegt und/oder zum Verkauf angeboten wurden – was trotz der durchaus beschränkten Tragweite für das Sammelgebiet Kiautschou schon als spektakulär zu bezeichnen war – kann heute ein weiteres Exemplar gemeldet werden. Es handelt sich um eine Kiautschou, MiNr. 4 auf Karte (Abb. 12), deren kleiner Überdruck ebenfalls die „neue“ Type 11 zeigt (Abb. 13).

Diese Neuentdeckung gibt Gelegenheit, auch die bisherigen Kombinationen mit dem Nachweis der Nachbarmarken noch einmal zu überprüfen. Und in der Tat ergibt sich eine neue, jetzt passende Kombination: Führt man die neu entdeckte Type 11 mit der rechten Marke aus Abb. 10 zusammen – eine Kombination, die wie bereits beschrieben nicht passt –, so ergibt sich eine Kombination (Abb. 14), die bezüglich der Ausmaße denen auf den jetzt ebenfalls deutlich vergrößerten Abbildungen 7 und 8 absolut entspricht (Abb. 15 und Abb. 16).

Damit können vier Kombinationen als nachgewiesen gelten – auch wenn man einräumen muss, dass die Kombination aus Abb. 9 mit der Aufdruckstellung der anderen drei Kombinationen nicht absolut identisch ist: der Aufdruck in Type 11 steht im Vergleich zu den drei anderen Paaren minimal zu niedrig, was in der überarbeiteten Fassung (Abb. 17) relativ gut zu erkennen ist!
Die Frage ist nun, ob es sich um eine Abweichung handelt, die man tolerieren muss, weil die Bilder nicht unter identischen Bedingungen entstanden sind? Denn dass beispielsweise der Blaustrich passt, ist offensichtlich! Und eine Kombination der ungebrauchten Type 3 c mit Unterrand mit der in Abb. 1 gezeigten MiNr. 4 mit Aufdrucktype 11 ergibt bereits hinsichtlich des Blaustrichs wie gezeigt erheblich größere Unterschiede (Abb. 18).

Sollten sie aber tatsächlich NICHT zueinander passen, so würden sich weitreichende Folgen ergeben: es müsste dann noch eine weitere Type 11 (zu der dann die ungebrauchte Marke mit Unterrand passen müsste) UND zwei weitere Exemplare in Type 3 c geben!
Da dies erst einmal sehr unwahrscheinlich erscheint, sollte bis auf weiteres davon ausgegangen werden, dass vier Kombinationen zusammen passen und nur noch eine weitere Marke mit kleinem Aufdruck in Type 3 c für die oben beschriebene Marke auf Karte (Abb. 1) gefunden werden muss!

PDF-Download des Artikels